Paläoanthropologie Waren Adam und Eva Chinesen?
Bild vergrößern Ein Forscherteam hat in Asien Reste eines Anthropoiden entdeckt – eines 37 Millionen Jahre alten Urahnen des heutigen Menschen. Dieser und andere Funde stellen die alte Theorie infrage, nach der die Menschheit vor 2,4 Millionen Jahren in Afrika entstand.
Paläoanthrophologen sind seltsame Menschen: Nie hält es sie lange in der Zivilisation. Wann immer sie die Möglichkeit haben, verschwinden sie aus ihren Universitäten und wühlen sich irgendwo in der Wildnis mit kleinen Schaufeln durch den Untergrund – stets auf der Suche nach Fossilien, die Auskunft über die Herkunft der Menschheit geben könnten.
Dabei stört es sie überhaupt nicht, dass ihre Buddelei großenteils ziemlich unergiebig ist, denn nur selten finden sie etwas, was ihnen weiterhilft. Hier und da mal zwei versteinerte Knöchelchen, ab und zu ein Faustkeil oder ein anderer Gebrauchsgegenstand müssen ihnen ausreichen, um unsere früheste Vergangenheit zu rekonstruieren. Das ist etwa so, als wollte man die Geschichte der Menschheit von Christi Geburt bis heute nur mithilfe eines halben peruanischen Schädels aus dem 3. Jahrhundert und einer verrosteten deutschen Schraube aus dem 20. Jahrhundert nacherzählen. Also fast unmöglich!
Kein Wunder, dass es neben der Paläoanthropologie kaum eine andere Forschungsrichtung gibt, in der die Professoren so miteinander streiten, sich beschimpfen und vor Gericht zerren. Aber letztlich kann keiner von ihnen lückenlos beweisen, was er behauptet – dafür gibt es zu wenig Funde. Und jede neue Entdeckung kann alles verändern, was bisher als gültig galt.
Zum Beispiel die Entdeckung, die das Experten-Team des französischen Paläoanthropologen Professor Jean-Jacques Jaeger 1998 im asiatischen Myanmar – dem ehemaligen Birma – machte. Das Land steht unter Militärdiktatur, und so glich auch die Expedition eher einer militärischen Operation als einer wissenschaftlichen Erkundung. Die Forscher wurden von einem Trupp Soldaten unter Führung des Majors Bo Bo in das öde Pondaung-Gebiet eskortiert, und als sie nach dreitägiger Jeep-Safari bei brütender Hitze ihr Ziel erreichten, bezogen die Kampfeinheiten in Sichtweite Posten. Während die Militärs Wache schoben, wühlten sich die Experten unten im ehemaligen Tal des Urzeitflusses Proto-Irawadi durch die von der Sonne zu Stein gebackenen Schlammfelder. Keine leichte Arbeit. Aber schließlich wurden die Forscher fündig. Sie entdeckten zwei versteinerte Schädelfragmente, einen zerbrochenen Unterkiefer und Zähne, die allesamt von einem seltsamen kleinen Lebewesen stammten, das kaum schwerer als 400 Gramm gewesen sein konnte. Es lebte und starb vor etwa 37 Millionen Jahren. Das ist an sich noch nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war nur, dass es trotz seines Alters eine Ähnlichkeit mit uns Menschen aufwies: Vor allem im Zahnschema zeigten sich Gemeinsamkeiten. Natürlich war das kein Mensch im modernen Sinn, aber für Jaeger und sein Team stand fest: Sie waren auf einen Urahnen unserer Art gestoßen – einen Anthropoiden. Warum dieser Fund eine Sensation war, zeigt ein Blick auf die Zeitschiene unserer Evolution.
Von den Säugetieren verlief die Entwicklung über die Primaten, Anthropoiden (Menschenähnliche) und Hominiden (Menschenartige) zum modernen Menschen (Homo sapiens). In dieser Abfolge sind also die Hominiden – zu denen der Homo sapiens, Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans zählen – die Nachfahren der Anthropoiden, zu denen auch noch alle anderen Affen gehören. Das bedeutet: Weil Anthropoiden älter als Hominiden sind, kann jeder Fund eines Anthropoiden alle Vermutungen über unsere Abstammung infrage stellen, die bisher aus Knochen von Hominiden gezogen wurden. Und genau das ist die Konsequenz aus Jaegers Entdeckung in Myanmar. Bisher folgerte die Mehrheit der Paläoanthropologen aus mehr als zwei Millionen Jahre alten Hominidenfunden in Zentralafrika, dass die Wiege der Menschheit auf dem Schwarzen Kontinent stand. Diese »Out of Africa«-Theorie bringt der kleine Anthropoide aus Asien ins Wanken: Allem Anschein nach reichen unsere Wurzeln weiter zurück, und wir müssen bei der Suche nach unserer Herkunft auch Asien mit einbeziehen. »Plötzlich standen wir vor der Aufgabe, neue Antworten auf die alte Frage zu geben, wo die Menschen herkommen«, sagt Jaeger. »Bisher sprach alles für Afrika. Aber jetzt sprechen sehr starke Argumente für Asien. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns täuschen, ist sehr gering. Es könnte sein, dass wir alle unsere Vermutungen über den Ursprung der Anthropoiden und die Evolution über den Haufen werfen müssen.«
Die bislang favorisierte »Out of Africa«-Theorie geht davon aus, dass unsere Vorfahren vor gut vier Millionen Jahren in Afrika von den Bäumen kletterten, sich aufrichteten und auf zwei Beinen die Welt eroberten. Sie waren noch sehr primitiv, aber nach neuesten Erkenntnissen änderte sich das knapp zwei Millionen Jahre später. Vor 2,4 Millionen Jahren lebte der erste Urahn von uns modernen Menschen, er wurde Homo erectus genannt. In Europa entwickelte er sich zum Neandertaler, in Südostasien zum »Java Man«, im Norden Asiens zum »Peking Man«. Seine Kennzeichen waren der kräftige, schnauzenähnlich vorgewölbte Kiefer mit den riesigen Zähnen, die flache Stirn mit den Augenwülsten und das fliehende Kinn. Obwohl Homo erectus nicht besonders clever war und erst spät zu sprechen lernte, war er intelligent genug, um Werkzeuge zu entwickeln, Stämme zu gründen, Feuer zu machen und selbst das damals unwirtliche Europa zu besiedeln. Vor 500000 Jahren entwickelte sich, wiederum in Afrika, eine Konkurrenz zum Homo erectus: der Homo sapiens. Feingliedriger war diese Art und mit einem größeren Gehirn ausgestattet. Der Kopf erhielt eine neue Architektur, eher kugelförmig und deshalb auch mit einer dünneren Schädeldecke stabil. Vor etwa 100000 Jahren sah dieser Frühmensch schon fast so aus wie wir heute. Leichtfüßig machte er sich spätestens vor 40000 Jahren auf den Weg nach Europa und Asien, und seiner überlegenen Klugheit ist es zuzuschreiben, dass er die dort heimischen Neandertaler und andere Homo-erectus-Arten verdrängte, die schließlich ausstarben. Das sind die Kernpunkte der »Out of Africa«-Theorie. Aber wie aussagefähig ist sie wirklich, wenn nahezu alle Paläoanthropologen im letzten Jahrhundert ausschließlich in Afrika nach Fossilien gegraben haben? Der Grund für diese Einseitigkeit: Die meisten der Wissenschaftler waren Amerikaner oder Europäer, die auf Grund der kolonialen Vergangenheit ihrer Länder eher Zugang zu Afrika als zu Asien fanden. Und logischerweise kann man nur da etwas finden, wo man sucht. Links liegen blieb auch Amerika – bis heute eine paläoanthropologische Terra incognita. Wer weiß, was hier noch im Boden verborgen liegt: Vielleicht lässt sich ja eines Tages anhand künftiger Funde die Frage endgültig klären, wer wirklich die Ureinwohner des Kontinents waren.
Dass die Afrika-Theorie sich so lange halten konnte, lag auch daran: 1987 präsentierten Molekularbiologen Forschungsergebnisse, die unsere Herkunft aus Afrika genetisch zu beweisen schienen. Beweismittel: die Erbinformationen in den menschlichen Mitochondrien. Diese winzigen Kraftwerke in unseren Zellen verfügen über eigene Gene, die so genannte mtDNA: Sie wird ausschließlich durch die Mutter vererbt, da nur die plasmareiche Eizelle ihre Mitochondrien behält; die des Spermiums bleiben bei der Befruchtung außerhalb der Eizelle. Die Folge: Weil die väterlichen Gene als Korrekturmöglichkeit für Mutationen fehlen, treten in der mtDNA Schäden und Fehler häufiger auf als in der Zellkern-DNA, die ja aus väterlichen und mütterlichen Genen kombiniert wird. In der gleichen Zahl von Generationen entstehen also in der mtDNA mehr Mutationen als in der Kern-DNA. Amerikanische Genforscher analysierten bei fast tausend Menschen von allen Kontinenten einen bestimmten Abschnitt der mtDNA und kamen zu zwei überraschenden Ergebnissen:
Erstens: Im Durchschnitt unterschieden sich die Gene der untersuchten Menschen in nur acht Positionen – egal, ob sie aus China, Afrika, Europa oder Australien stammen. Wir sind also genetisch viel näher miteinander verwandt, als die äußeren Unterschiede beispielsweise zwischen Aborigines in Australien, Mongolen in Asien, Nuba in Afrika oder Eskimos auf Grönland nahe legen.
Zweitens: Die Gene der afrikanischen Versuchspersonen unterschieden sich deutlicher voneinander als diejenigen der Menschen aus anderen Kontinenten. Wenn also die Zahl der Mutationen bei Afrikanern am größten ist, folgerten die Wissenschaftler, dann müsse die afrikanische Population die älteste der Welt sein. Komplizierte Berechnungen ergaben zudem, dass unsere mtDNA auf eine einzige Urmutter zurückzuführen ist, die vor etwa 200000 Jahren gelebt haben muss. Fazit: Eva war Afrikanerin.
Seltsamerweise entsprach diese Erklärung ziemlich exakt dem christlich-jüdischen Weltbild von der Erschaffung der Menschen. Auch darin gibt es eine einzige Urmutter: Eva. Sie lebte mit Adam im Paradies, bis beide den Apfel vom Baum der Erkenntnis aßen und in die Welt hinausgestoßen wurden. Aus westlicher Sicht hatte sich der Kreis geschlossen: Die Wissenschaft bestätigte den Glauben und lieferte auch noch eine Ortsangabe dazu: Das Paradies der Christen lag in Afrika – von hier aus eroberten wir die Welt.
Alles schien klar. Manchen zu klar. Mit dem zunehmendem Bewusstsein davon, dass die wissenschaftliche Suche nach den Urmenschen sich allzu sehr auf den Schwarzen Kontinent kapriziert hatte, kamen Zweifel auf: Ist wirklich wahr, was wir für wahr erachten? Oder gibt es auch ganz andere Antworten auf unsere Fragen? Haben wir überhaupt die richtigen Fragen gestellt? An diesem Punkt befindet sich die Paläoanthropologie zurzeit. Unbeeindruckt von der scheinbar nicht zu hinterfragenden Erklärungsmacht der »Out of Africa«-Theorie stellen immer mehr Forscher die Frage nach unserer Herkunft neu – ein Paradigmenwechsel bahnt sich an. Sein Wegbereiter war Milford Wolpoff, Anthropologie-Professor an der Universität von Michigan (USA). Als Einzelkämpfer entwickelte er Anfang der 1990er Jahre die so genannte »multiregionale Evolutionstheorie« (MET). Sie besagt, dass sich der moderne Mensch an verschiedenen Orten der Welt jeweils aus seiner Vorgängerpopulation entwickelt hat. Für Europa gilt nach diesem Modell der Neandertaler als Vorfahr aller Europäer, der »Peking Man« als Urahn der Chinesen und der »Java Man« als Stammvater aller Südasiaten und Aborigines. Ein Argument für diese Theorie ist, dass sich Millionen Jahre alte Fossilien aus China und Java auf ähnliche Weise voneinander unterscheiden wie heutige Chinesen von Javanesen, unter anderem in der Form der Nasen und der Schneidezähne. Zwar gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen den Rassen – aber die sind nach der MET nicht mit einer gemeinsamen Abstammung von einer afrikanischen Urmutter zu erklären: Sie entstanden durch die gemeinsame Herkunft vom Homo erectus, der sich aus Klimagründen nur in den subtropischen Gebieten Afrikas und Asiens entwickeln konnte, sowie durch den so genannten Gen-Flow – die multikulturelle Vermischung der Gene durch rassenübergreifende Ehen.
Wolpoff beschrieb den Unterschied zwischen seiner MET und dem »Out of Africa«-Modell am Beispiel eines Swimmingpools. In seiner Theorie paddeln Menschen aus unterschiedlichen Urpopulationen im Schwimmbecken, jeder in seiner Ecke; die Wellen, die sie erzeugen, beinflussen sich gegenseitig – das ist der Gen-Flow. In der »Out of Africa«-Theorie vergnügen sich die Menschen ebenfalls im Wasser, bis ein neuer Badegast, der Homo sapiens, mit einem so heftigen Bauchklatscher ins Becken springt, dass die Wellen alle anderen Schwimmer ertränken. Klingt unwahrscheinlich.
Auch auf andere wunde Punkte der »Out of Africa«-Theorie legte Wolpoff den Finger. Wieso eigentlich sollte es den Nachkommen der Urmutter Eva gelungen sein, alle anderen Menschen auf der Welt restlos zu verdrängen? Zum Beispiel die Neandertaler. Sie waren an das kalte, raue Klima in unseren Breiten gewöhnt – gegenüber den sonnenverwöhnten Afrikanern bei deren Ankunft in Europa also im Vorteil. Außerdem waren die Neandertaler nicht nur körperlich viel stärker, sondern auch noch in der Überzahl – Hunderttausende im Vergleich zu den paar hundert Neuankömmlingen vom Typ Homo sapiens. Und trotzdem sollen die Europäer den Krieg der Kulturen verloren haben? Unterdessen gibt es immer mehr Unterstützung für Wolpoffs multiregionale Evolutionstheorie. Chinesische Wissenschaftler um den Paläoanthropologen Wu Xinzhi haben festgestellt, dass eine außergewöhnlich hohe Anzahl von Chinesen heute noch Schneidezähne hat, die bei mehrere hunderttausend Jahre alten Fossilien in China gefunden wurden. Ähnliches gilt für Europa: In uns stecken mehr typische »Bauteile« der Neandertaler als in Menschen aus anderen Regionen des Globus: Dazu gehören die Nasenform, das Design des Hinterkopfes und die Form des Loches, durch welches ein bestimmter Nerv den Kiefer passiert. Last but not least bringt auch der kleine Anthropoide, den Jean-Jacques Jaeger in Myanmar ausgegraben hat, die Afrika-These ins Wanken. Und selbst die genetischen »Beweise« für die afrikanische Eva vor 200000 Jahren erscheinen zunehmend fraglich. Schon Wolpoff hatte den Wert der mtDNA-Analysen kritisch betrachtet. Er hielt mitochondriale Gene nicht für besonders aussagefähig, gerade weil sie nur durch Mütter vererbt werden: Ganze Gengruppen können spurlos verschwinden, wenn es in einer Generation kaum Töchter gibt – auf ähnliche Weise verschwinden Nachnamen aus Ahnentafeln, wenn Familien keine Söhne haben.
Bestätigt wird Wolpoff ausgerechnet von Molekularbiologen, die heuzutage sehr viel kompliziertere Gen-Analysen als vor fast zwei Jahrzehnten vornehmen können. Sie konzentrieren sich neuerdings auf so genannte Snips (»Single Nucleotide Polymorphisms«) in der Zellkern-DNA. Snips sind durch Mutation bewirkte Abweichungen in der Abfolge der DNA-Bausteine innerhalb der Chromosomen. Mindestens 1,5 Millionen Snips sind in den etwa 3,2 Milliarden Bausteinen des menschlichen Erbguts versteckt; man vermutet, dass sie für individuelle genetische Unterschiede zwischen den Menschen (beispielsweise Haar- und Augenfarbe) verantwortlich sind. Bei der Untersuchung der Snips haben die Genforscher nun entdeckt, dass einige von ihnen bis zu mehrere Millionen Jahre alt sind – viel älter also als die 200000 Jahre alte mtDNA, die uns angeblich mit einer Urmutter auf dem Schwarzen Kontinent genetisch verbindet. Wenn aber die Theorie von der afrikanischen Eva zutreffen soll, müssten alle älteren Gene aus unseren Erbanlagen verschwunden sein. Hinzu kommt: Eine Forschergruppe um den US-Anthropologen Henry C. Harpending von der University of Utah in Salt Lake City entdeckte bei der Analyse von 500000 Snips, dass sich in den Proben uralte europäische oder asiatische Gene befinden. Das dürfte aber ebenfalls nicht sein, wenn alle Menschen eine einzige afrikanische Urmutter haben. Die Wissenschaftler kommen deshalb zu dem Schluss: Die »Out of Africa«-Theorie kann nicht stimmen. Wenn die Genforscher sich nicht getäuscht haben (wofür nichts spricht), bedeuten die Ergebnisse, dass der Mensch nicht nur in Afrika von den Bäumen gestiegen ist – er tat dies überall auf der Welt. Damit ist die Vorstellung von einer einzigen Wiege der Menschheit überholt. Chinesen haben andere Stammväter und -mütter als Afrikaner oder Europäer. Adam und Eva gab es an vielen Orten – was auch gleich erklärt, warum sich Asiaten, Europäer und Afrikaner äußerlich so stark voneinander unterscheiden.
Wie z. B. das chinesische Stammpaar aussah, weiß man ziemlich genau. In der Zhoukoudian-Höhle, 40 Kilometer südlich von Peking, entdeckten Forscher die Überreste einer fast 500000 Jahre alten Homo-erectus-Familie, die bereits das Feuer kannte und Waffen für die Jagd herstellte. Gerade mal 144 Zentimer groß war die chinesische Eva, ihr Adam immerhin 155 Zentimeter. Ob die beiden schon Schlitzaugen hatten, darüber kann man nur spekulieren. Aber eines ist sicher: Mindestens zwölf anatomische Merkmale moderner Chinesen findet man auch bei den Höhlenmenschen von Zhoukoudian. Warum sollen sie dann nicht auch die typische Augenform gehabt haben?
Autor(in): Michael Kneissler |